Mitleidsethik

Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauers Mitleidsethik stellt das Mitgefühl ins Zentrum moralischen Handelns und sieht im Leid eine Erfahrung, die uns Menschen miteinander, aber auch mit Tieren verbindet. Seine Philosophie fordert uns auf, über egoistische Motive hinauszublicken und das Wohl anderer in den Vordergrund zu stellen. Entdecke, wie Schopenhauers Denken das Verständnis von Ethik und Mitgefühl revolutioniert hat.

Inhalt

Biografie

Arthur Schopenhauer (* 22. Februar 1788 in Danzig; † 21. September 1860 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Philosoph und Hochschullehrer. Schopenhauer entwarf eine Lehre, die gleichermaßen Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik umfasst. Innerhalb der Philosophie des 19. Jahrhunderts entwickelte er eine eigene Position des subjektiven Idealismus und vertrat als einer der ersten Philosophen im deutschsprachigen Raum die Überzeugung, dass der Welt ein irrationales Prinzip zugrunde liegt.

Zitate

Original Textauszug

Das Wohl und Wehe, welches […] jeder Handlung oder Unterlassung als letzter Zweck zum Grunde liegen muss, ist entweder das des Handelnden selbst oder das irgendeines Anderen, bei der Handlung passiv Beteiligten. Im ersten Falle ist die Handlung notwendig egoistisch; weil ihr ein interessiertes Motiv zum Grunde liegt. Dies ist nicht bloß der Fall bei Handlungen, die man offenbar zu seinem eigenen Nutzen und Vorteil unternimmt, dergleichen die allermeisten sind; sondern es tritt ebenso wohl ein, sobald man von einer Handlung irgendeinen entfernten Erfolg, sei es in dieser oder einer andern Welt, für sich erwartet; oder wenn man dabei seine Ehre, seinen Ruf bei den Leuten, die Hochachtung irgendjemandes, die Sympathie der Zuschauer u. dgl. m. im Auge hat; nicht weniger, wenn man durch diese Handlung eine Maxime aufrechtzuerhalten beabsichtigt, von deren allgemeiner Befolgung man eventualiter einen Vorteil für sich selbst erwartet wie etwa die der Gerechtigkeit, des allgemeinen hilfreichen Beistandes usw. – ebenfalls wenn man irgendeinem absoluten Gebot, welches von einer zwar unbekannten, aber doch offenbar überlegenen Macht ausginge, Folge zu leisten für geraten hielte, da alsdann nichts Anderes, als die Furcht vor den nachteiligen Folgen des Ungehorsams, wenn sie auch bloß allgemein und unbestimmt gedacht werden, dazu bewegen kann, – desgleichen, wenn man seine eigene hohe Meinung von sich selbst, seinen Werte oder Würde, deutlich oder undeutlich begriffen, die man außerdem aufgeben müsste und dadurch in seinen Stolz gekränkt sähe, durch irgendeine Handlung, oder Unterlassung, zu behaupten trachtet, – endlich auch, wenn man […] dadurch an seiner eigenen Vervollkommnung arbeiten will.

Kurzum, man setze zum letzten Beweggrund einer Handlung, was man wolle: immer wird sich ergeben, dass auf irgendeinem Umwege zuletzt das eigene Wohl und Wehe des Handelnden die eigentliche Triebfeder, mithin die Handlung egoistisch, folglich ohne moralischen Wert ist.

Nur einen einzigen Fall gibt es, in welchem dies nicht statthat: nämlich wenn der letzte Beweggrund zu einer Handlung oder Unterlassung geradezu und ausschließlich im Wohl und Wehe irgendeines dabei passiv beteiligten Anderen liegt, also der aktive Teil bei seinem Handeln, oder Unterlassen, ganz allein das Wohl und Wehe eines Andern im Auge hat und durchaus nichts bezweckt, als dass jener Andere unverletzt bleibe, oder gar Hilfe, Beistand und Erleichterung erhalte. Dieser Zweck allein drückt einer Handlung oder Unterlassung den Stempel des moralischen Wertes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, dass die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines Andern geschehe oder unterbleibe. Sobald nämlich dies nicht der Fall ist; so kann das Wohl und Wehe, welches zu jeder Handlung führt, oder von ihr abhält, nur das des Handelnden selbst sein, dann aber ist die Handlung oder Unterlassung allemal egoistisch, mithin ohne moralischen Wert.

Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehen soll; so muss sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv sein: so wie bei allen andern Handlungen das meinige es ist. Dies bringt unser Problem auf einen engern Ausdruck, nämlich diesen: wie ist es irgend möglich, dass das Wohl und Wehe eines Andern unmittelbar, d. h. ganz sowie sonst nur mein eigenes, meinen Willen bewege, also direkt mein Motiv werde und sogar es bisweilen in dem Grade werde, dass ich demselben mein eigenes Wohl und Wehe, diese sonst alleinige Quelle meiner Motive, mehr oder weniger nachsetze? – Offenbar nur dadurch, dass jener Andere der letzte Zweck meines Willens wird, ganz so wie sonst ich selbst es bin: dadurch, dass ich ganz unmittelbar sein Wohl will und, sein Wehe nicht will, so unmittelbar wie sonst nur das meinige. Dies aber setzt notwendig voraus, dass ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein Wehe fühle wie sonst nur meines und deshalb sein Wohl unmittelbar will wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, dass ich auf irgendeine Weise mit ihm identifiziert sei, d. h., dass jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. Da ich nun aber doch nicht in der Haut des Andern stecke, so kann allein vermittelst der Erkenntnis, die ich von ihm habe, d. h. der Vorstellung von ihm in meinem Kopf, ich mich so weit mit ihm identifizieren, dass meine Tat jenen Unterschied als aufgehoben ankündigt. Der hier analysierte Vorgang aber ist kein erträumter oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja, keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Teilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlsein und Glück besteht.

Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller echten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Wert, und jede aus irgendwelchen anderen Motiven hervorgehende hat keinen. Sobald dieses Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des Andern unmittelbar am Herzen, ganz in derselben Art, wenn auch nicht stets in demselben Grade wie sonst allein das meinige: also ist jetzt der Unterschied zwischen ihm und mir kein absoluter mehr.

Arthur Schopenhauer: Die beiden Grundprobleme der Ethik, II: Über die Grundlage der Moral, in: Sämtliche Werke. Hrsg. von W. Löhneysen, Bd. 3. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977. S. 738-740

Lernzettel

  • beinhaltet deontologische und teleologische Aspekte
  • jede Handlung benötige ein Motiv bzw. eine „innere Triebfeder“
  • → es gebe drei Triebfedern/Motive:
    1) „Wohl und Wehe“ eines anderen → Mitleid
    2) „Wohl und Wehe“ meiner selbst, d.i. Egoismus
    3) Boshaftigkeit
  • moralisch richtig sei eine Handlung genau dann, wenn sie aus Mitleid geschehe →  Mitleid als zentrale moralische Instanz
  • jedoch seien die meisten Handlugen egoistisch (Motive: Erfolg, Achtung, Macht, Werte, Angst, etc.)
    → Eigennutz als letzte Motivation 
  • moralische Handlung erfordere vollkommene Empathie → Wohl und Wehe des anderen müssen zum Motiv des Handelnden werden
  • dazu müsse sich der Mensch in den anderen hineinversetzen →  mit dem Betroffenen leiden und mitfühlen
  • Berücksichtigung des Leids, das durch die Handlung verursacht wird, um herauszufinden, wie viel Mitleid man entgegenbringen muss
    → bspw. wäre das Bestehlen eines Armen unmoralischer als das eines Reichen
  • Schwierigkeit, in der Haut des anderen zu stecken →  Begrenzung auf die eigene Vorstellung, die man vom anderen hat
  • Folge: bei guter Personenkenntnis ist es einfacher, aus Mitleid zu handeln

Schaubild

Klausurtext

Tragfähigkeit

  • seine Theorie kann dabei helfen, die Haltung des Neids zu überwinden, da die beneidete Person im Mitleid als sympathisch erfahren wird und man versucht, ihre Gefühle zu verstehen
  • Mitleid ist nicht nur auf vernünftige, autonome Wesen beschränkt, sondern bezieht sich auf alle leidensfähigen Wesen
    → wird so natürlichen Ansprüchen der Tierwelt gerecht, was heutzutage beliebt ist
  • die Identität bzw. Übereinstimmung des Menschen mit anderen Tieren besteht in ihrer Lebens- und Leidensfähigkeit → Gemeinsamkeit, auf Basis derer man ein Moralprinzip gründen kann
  • je weniger man eine Person kennt, desto schwieriger wird es, sich in sie hineinzuversetzen und zu fühlen → kann zu Fehlinterpretationen und Fehlentscheidungen führen → kann schlimmstenfalls das Leid vergrößern
  • Prinzip erfordert das Hineinversetzen in andere Personen, welches laut der Doppelaspekt-Theorie von Nagel nicht möglich ist
  • Kommunikation mit Tieren ist kaum möglich → Hineinversetzen nahezu unmöglich → alle Menschen empfinden unterschiedlich viel Mitleid oder bringen keins auf → Problem
  • Mitleidsethik ist sehr subjektiv → kann nicht als Grundlage für einen Staat dienen

Teste dein Wissen

Eine Handlung ist genau dann moralisch richtig, wenn sie aus Mitleid entsteht, also lediglich das Wohl und Wege eines andern verfolgt.

Die Mitleidsethik beinhaltet sowohl deontologische als auch teleologische Aspekte, da sie einerseits auf das Mitleid als Voraussetzung moralisch guten Handelns schaut, andererseits aber das richtige Maß an Mitleid teleologisch, also folgenorientiert, bewertet wird. Somit lässt sie sich mehreren Kategorien zuordnen.

Mitleid ist die „unabhängige Teilnahme […] am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens“ Mitleid wird bei Schopenhauer auf das Nachempfinden sowohl positiver als auch negativer Emotionen eines anderen bezogen. Mitleiden heißt bei Schopenhauer also so viel wie „Mitfühlen“.

Schopenhauer postuliert, alle Handlungen, die nicht aus Mitleid entspringen, haben in letzter Begründung einen egoistischen Wert. Nur das Mitleid ist ihm zufolge ein moralisch reines Motiv und somit das Fundament der Moral.

Er soll sich selbst so empathisch in den anderen hineinversetzen, dass er genau das gleiche Leid bzw. die gleiche Freude empfindet wie dieser, mithin mit dem Betroffenen leide und mitfühle. Dabei ist mitleiden im Sinne von mitfühlen gemeint, also auch auf positive Emotionen bezogen (Wohl und Wehe)

Er muss berücksichtigen, wie viel Leid die Handlung verursacht, um zu wissen, wie viel Mitleid sie verdient.

Z.B. wäre es unmoralischer, eine arme Person zu bestehlen als eine reiche Person, da diese weniger darunter zu leiden hat.

In der Leidensfähigkeit stimmen Menschen und andere Tiere überein, sodass der Mensch sich auch in leidensfähige Tiere hineinversetzen & Mitleid mit ihnen empfinden muss, wenn sie von einer ethischen Entscheidung betroffen sind. Fraglich ist lediglich, inwieweit es dem Menschen möglich ist, genau so zu empfinden wie ein Tier.

Bei Kant ist die Voraussetzung für moralisches Handeln die Pflicht, d.h. der gute Wille. Der gute Wille besteht darin, das moralische Gesetz achten zu wollen. Neigungen, Erfahrungen, etc. dürfen ethische Entscheidungen nicht beeinflussen.

Bei Schopenhauer ist die Voraussetzung für moralisches Handelns das Mitleid. Die Empathie und somit die Neigungen des Menschen spielen also eine entscheidende Rolle in ethischen Entscheidungen.

Nach der Mitleidsethik musst du dich in den Teenager hinein fühlen und seine Freude bzw. sein Leid nachempfinden.

Es ist eindeutig, dass der Teenager aus einer Notlage heraus handelt, weil er hungert und kein Geld hat, um sich genügend Nahrung zu kaufen.

Um nach Schopenhauer moralisch zu handeln, musst du Mitleid mit dem Teenager haben und versuchen, sein Leid zu beenden.

Dennoch würde Schopenhauer gesetzeswidrige Handlungen nicht unterstützen. Vielmehr solltest du dem Jungen Lebensmittel kaufen oder ihm Geld geben, sodass er sich selbst welche kaufen kann.

Der Fötus kann bei der Beurteilung unberücksichtigt bleiben, da bei diesem (10. SSW) das Nervensystem noch nicht vollständig ausgebildet ist. Es ist also kein Leid seinerseits vorhanden.

Versetzt man sich in die Gefühlslage von Sam, würde man feststellen, dass es ihr Wille ist, das Kind abzutreiben und sie leiden würde, wenn dies nicht getan würde.

Um ihr Wohl herzustellen, sollte das Kind also abgetrieben werden.

 

 

Lernmaterial

Einen guten Überblick zur Mitleidsethik bildet das folgende Video:
Mitleid mit Tieren⎥Schopenhauer | Tierethik

 

Fallbeispiel 1:
Eine Erzieherin wird von einem Kind um etwas gebeten, das offensichtlich nicht gut für die Erziehung des Kindes ist: Das Kind hat sich gegenüber anderen Kindern respektlos verhalten und bekommt nun ein Time-Out – es darf vorerst nicht mehr mit den anderen Kindern spielen. Infolge dessen weint und schreit das Kind, weil es weiterhin mit den anderen Kindern spielen möchte.
Die Erzieherin ist hin- und hergerissen. Sie überlegt, ob sie dem Kind sein „Spielrecht“ zurückgeben oder es einfach weiter weinen lassen sollte.

Bewerte das Fallbeispiel aus Sicht der Mitleidsethik von Schopenhauer.

 

Alltagsbeispiele zur Anwendung der Position:
Du willst dein Wissen zur Ethik mit alltagsbezogenen Dilemmasituationen prüfen? Hier geht’s zu unserer Seite mit spannenden ethischen Fragen.
https://philo.works/alltagsbezogene-fragen-zum-ueben/