Existentialismus

Markus Gabriel

Markus Gabriel beleuchtet den Existentialismus aus einer zeitgenössischen Perspektive und hinterfragt dabei die traditionellen Annahmen über Sinn und Existenz. Mit seinem Ansatz lädt er dazu ein, die menschliche Freiheit und Verantwortung in unserer komplexen Welt neu zu entdecken. Tauche ein in Gabriels philosophische Gedanken zur menschlichen Freiheit und ihren Grenzen.

Inhalt

Biografie

Markus Gabriel (geboren 6. April 1980 in Remagen) ist ein deutscher Philosoph, Buchautor und Vertreter des Neuen Realismus. Er lehrt seit 2009 als Professor an der Universität Bonn, veröffentlicht neben Fachliteratur auch populärwissenschaftliche Bücher und ist seit 2022 Academic Director der Hamburger Denkfabrik The New Institute von Erck Rickmers.

Zitate

Original Textauszug

Leibniz — einer der Meisterdenker der frühen Neuzeit – hat ein berühmtes Prinzip formuliert: den Satz vom zureichenden Grund. […] Wenn irgendetwas geschieht (etwa der Anpfiff eines
Fußballländerspiels), gibt es eine Reihe von Gründen dafür, dass es geschieht. […]

Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Satz vom zureichenden Grund schränke unsere Freiheit ein oder mache sie gar zunichte. Denn er sagt ja, dass wir nicht einfach nur so oder grundlos irgendetwas tun. […]
[Doch] der Eindruck, dass uns der Satz vom zureichenden Grund unfrei macht, ist trügerisch. Um zu sehen, warum das so ist, ist ein erster Schritt der, zwischen harten Ursachen und Gründen zu
unterscheiden.

Liegt eine harte anonyme Ursache vor, wird eine Wirkung eintreten, ob man dies will oder nicht. Wenn man mich etwa zehn Minuten unter Wasser hält, werde ich ertrinken, ob ich dies will oder nicht. Wenn ich mir ein Messer ins Bein ramme, wird dies schmerzen, ob ich dies will oder nicht. Wenn die Schwerkraft Newtons Gesetzen folgt, wird man zu dem und dem Zeitpunkt genau diese oder jene Sterne und Sternbilder von der Erde aus beobachten können, ob man dies will oder nicht. Naturgesetze sollen Zusammenhänge zwischen harten Ursachen ausdrücken, die notwendig sind, das heißt die niemals verletzt werden. Naturgesetze sind sozusagen besonders hart und unnachgiebig.

Im Unterschied dazu können mich viele Gründe niemals zu etwas zwingen. Angenommen, Olaf – ein langjähriger Kettenraucher – hätte den denkbar besten Grund, endlich mit dem Rauchen aufzuhören. Der Grund wäre etwa, dass er dann länger lebte, weniger hustete und seltener nach Qualm röche. Daraus folgt nicht, dass er zwingend aufhört zu rauchen. Er hört auf zu rauchen, wenn er dies will, sonst raucht er eben weiter. Man kann ihn allerdings zwingen, indem man ihn vor die Wahl stellt, das Rauchen aufzugeben oder ins Gefängnis zu gehen. Doch auch dann gibt es immer noch Raum für Olaf, die Unfreiheit vorzuziehen, sofern er ein Leben in Freiheit Ohne Zigaretten nicht für lohnenswert hält. Wenn ein Grund vorliegt, ereignet sich etwas nur dann, wenn jemand dem Grund folgen Will. Gründe können zu Motiven werden, bei harten Ursachen liegt dies nicht auf der Hand. Es ist jedenfalls kein alltägliches Motiv, sich an die Naturgesetze zu halten […].

Es kommt alles darauf an, dass man das Folgende anerkennt: Gründe und harte anonyme Ursachen, beide können unser Verhalten zugleich steuern. Angenommen, mir schmeckt aufgrund meiner neurobiologischen Ausstattung Tomatensoße besser als Sahnesauce. Dann wären die relevanten neuronalen Verschaltungen harte Ursachen dafür, dass mir Tomatensoße besser schmeckt als Sahnesauce. Aber vielleicht habe ich heute einen guten Grund dafür, die Sahnesauce zu nehmen, da diese mehr Proteine und Fette enthält, die ich gerne zu mir nehmen möchte. Dann Wäre dieser Grund leitend. […]

Der Satz vom zureichenden Grund sagt also nicht, dass alles, was geschieht, aus harten anonymen Ursachen geschieht. Da einfach nicht alle notwendigen Bedingungen, die einem Ereignis zugrunde liegen, harte anonyme Ursachen sind, kann das Geschehen auf unserem Planeten nicht insgesamt dadurch erklärt werden, dass man nur diese in Rechnung stellt.
Wenn man etwa erklärt, warum ein Autodieb bestraft Wird, Wird man lauter Begriffe verwenden, die notwendige Bedingungen namhaft machen, die aber keine harten Ursachen sind. Das bedeutet aber, dass es nicht etwa eine einzige sehr lange Kausalkette gibt, die alles bestimmt, steuert oder regelt, sondern nur eine riesige, völlig unüberschaubare Menge notwendiger Bedingungen und durch sie bestimmter Ereignisse. Wir sind deswegen frei, weil viele der notwendigen Bedingungen unseres Handelns keine harten Ursachen sind.

Markus Gabriel: Ich Ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert. Ullstein, Berlin 2015. S.285, 286, 288-292

Lernzettel

  • Satz vom zureichenden Grund: alles passiert aus einer Reihe von Gründen → daraus folgt nicht, dass der Mensch unfrei ist, denn: es gibt harte anonyme Ursachen & Gründe
  • harte Ursache: Wirkung wird notwendigerweise eintreten (s. Naturgesetze)
  • Grund: freie Entscheidung darüber, was man tut → Mensch handelt nur entsprechend des Grundes, wenn er will
    → Bsp. Tomatensoße vs. Sahnesoße: Dass man Tomatensoße lieber mag, ist ggf. genetisch bedingt (harte Ursache) → nichtsdestotrotz könne man sich für die Sahnesoße entscheiden, wenn man gute Gründe hat, bspw. dass die Sahnesoße mehr Proteine hat (Grund)
  • Schlussfolgerung: der Mensch hat einen freien Willen, da viele notwendige Bedingungen (Motive) menschlichen Handelns Gründe sind und nur wenige harte anonyme Ursachen; der Wille wird aber durch harte anonyme Ursachen eingeschränkt

Schaubild

Klausurtext

Tragfähigkeit

  • Kombination von Determinismus und Freiheit → Ansatz verbindet deterministische Elemente (harte Ursachen) mit der Möglichkeit freier Entscheidungen (Gründe), was eine realistische Sicht auf menschliches Handeln bietet
  • praktische Anwendbarkeit → Theorie lässt sich auf alltägliche Entscheidungen anwenden (s. Soßenbeispiel) und bietet somit eine greifbare Erklärung für menschliches Verhalten
  • Ermöglichung von Verantwortlichkeit → durch Betonung der freien Willensentscheidung wird individuelle Verantwortung zugeschrieben, was ethisch und gesellschaftlich bedeutsam ist
  • unklare Abgrenzung → die Trennung von harten Ursachen und Gründen kann in der Praxis schwer zu definieren sein, da viele Entscheidungen sowohl von inneren als auch äußeren Faktoren beeinflusst werden
  • Es bleibt weiterhin fraglich, ob wir uns nicht auf Grund von bestimmten bspw. genetischen Faktoren in diesem einen Fall doch für die Sahnesoße entscheiden, weil wir uns aus genetischen Gründen bspw. bewusster ernähren wollen

Teste dein Wissen

Markus Gabriel definiert den Satz vom zureichenden Grund als die Idee, dass alles, was geschieht, aus einer Reihe von Gründen hervorgeht.

Gabriel erklärt, dass harte anonyme Ursachen notwendig sind und unabhängig vom menschlichen Willen eintreten, während Gründe nur dann wirksam würden, wenn der Mensch sich dazu entscheidet, ihnen zu folgen.

Gabriel führt das Beispiel an, dass jemand ertrinken würde, wenn er zehn Minuten unter Wasser gehalten würde, unabhängig davon, ob er ertrinken möchte oder nicht. Dies geschieht notwendigerweise aufgrund der Naturgesetze.

Gabriel betont, dass harte anonyme Ursachen, wie Naturgesetze, keine alltäglichen Motive seien, da man sich nicht frei entscheiden könne, ihnen zu folgen oder nicht. Sie bestimmten laut Gabriel das menschliche Handeln nur in wenigen Fällen und seien nicht alltäglich.

Gabriel verwendet das Beispiel einer Person, die genetisch bedingt Tomatensoße bevorzugt, aber sich dennoch bspw. wegen einer proteinhaltigen Ernährung für die Sahnesoße entscheiden kann.

Neurobiologische Ausstattungen seien harte anonyme Ursachen, die genetisch bedingte Vorlieben und Neigungen beeinflussen, aber durch (rationale) Gründe übersteuert werden könnten.

 

Gabriel betont, dass der Satz vom zureichenden Grund nicht bedeute, dass alles aus harten anonymen Ursachen geschehe, da viele notwendige Bedingungen des Handelns Gründe und keine harten anonymen Ursachen seien.

Der Mensch sei laut Gabriel frei, weil viele seiner Handlungen auf Gründen basierten, die freiwillig gewählt würden, und nicht auf harten anonymen Ursachen, die zwangsläufig eintreten.

Sowohl Schopenhauer als auch Gabriel nehmen an, dass der Mensch durch bestimmte (äußere) Einflüsse determiniert wird.

Bei Gabriel ist der Mensch allerdings nur selten determiniert, weil harte anonyme Ursachen nur sehr selten das Handeln steuern würden und dem Handeln meist Gründe unterliegen, auf die eine freie Entscheidung folge.
Schopenhauer hingegen postuliert, der Mensch sei vollkommen determiniert, da innere und äußere Einflüsse jeder Art, egal wie schwach sie sind, den Menschen in seinem Handeln lenken und seinen Willen somit determinieren würden.

Markus Gabriels Position unterscheidet sich von Sartre dadurch, dass er dem Menschen keinen bedingungslos freien Willen und somit volle Verantwortung für sein Handeln zuschreibt, während Sartre die Isolation und Verantwortung des Einzelnen in den Vordergrund stellt. Sartre schreibt dem Menschen volle Verantwortung für sich selbst und die Menschheit zu, ohne mögliche Einschränkungen jenes freien Willens festzulegen.

Lernmaterial