Das Prinzip Verantwortung

Hans Jonas

Hans Jonas' Verantwortungsethik betont die Pflicht des Menschen, verantwortungsvoll mit der Umwelt und zukünftigen Generationen umzugehen. In einer Zeit rasanten technologischen Fortschritts fordert Jonas eine Ethik, die das langfristige Überleben der Menschheit sichert. Seine Prinzipien beantworten auch heute noch drängende Fragen unserer Zeit.

Inhalt

Biografie

Hans Jonas (* 10. Mai 1903 in Mönchengladbach; † 5. Februar 1993 in New Rochelle) war ein deutsch-amerikanischer Philosoph, der von 1955 bis 1976 als Professor an der New School for Social Research in New York lehrte.

Zitate

Original Textauszug

Alte und neue Imperative:
Die Anwesenheit des Menschen in der Welt war ein erstes und fraglos Gegebenes gewesen, von dem jede Idee der Verpflichtung im menschlichen Verhalten ihren Ausgang nahm: jetzt ist sie selber ein Gegenstand der Verpflichtung geworden – der Verpflichtung nämlich, die erste Prämisse aller Verpflichtung, das heißt eben das Vorhandensein bloßer Kandidaten für ein moralisches Universum in der physischen Welt, für die Zukunft zu sichern; und das heißt unter anderem, diese physische Welt so zu erhalten, dass die Bedingungen für ein solches Vorhandensein intakt bleiben; und das heißt, ihre Verletzlichkeit vor einer Gefährdung dieser Bedingungen zu schützen. Ich will den Unterschied, den dies für die Ethik macht, an einem Beispiel illustrieren. […]

Kants kategorischer Imperativ sagte: „Handle so, dass du auch wollen kannst, dass deine Maxime allgemeines Gesetz werde.“ Das hier angerufene „kann“ ist das der Vernunft und ihrer Einstimmung mit sich selbst: Die Existenz einer Gesellschaft menschlicher Akteure (handelnder Vernunftwesen) vorausgesetzt , muss die Handlung so sein, dass sie sich ohne Selbstwiderspruch als allgemeine Übung dieser Gemeinschaft vorstellen lässt. Man beachte, dass hier die Grundüberlegung der Moral nicht selber moralisch, sondern logisch ist: das „wollen können “ oder „nicht können“ drückt logische Selbstverträglichkeit oder -unverträglichkeit […] aus. Es liegt aber kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, dass die Menschheit einmal aufhöre zu existieren, und somit auch kein Selbstwiderspruch in der Vorstellung, dass das Glück gegenwärtiger  und  nächstfolgender  Generationen mit dem Unglück oder gar der Nichtexistenz späterer Generationen erkauft wird – so wenig, wie schließlich im Umgekehrten, dass die Existenz und das Glück späterer Generationen mit dem Unglück und teilweise sogar der Vertilgung gegenwärtiger erkauft wird. Das Opfer der Zukunft für die Gegenwart ist logisch nicht angreifbarer als das Opfer der Gegenwart für die Zukunft. Der Unterschied ist nur, dass im einen Fall die Reihe weitergeht, im andern nicht. Aber dass sie weitergehen soll , ungeachtet der Verteilung von Glück und Unglück, ja selbst mit Übergewicht des Unglücks über das Glück, und sogar der Unmoral über die Moral, lässt sich nicht aus der Regel der Selbsteinstimmigkeit innerhalb der Reihe, so lange oder kurz sie eben dauert, ableiten: es ist ein außer ihr und ihr vorausliegendes Gebot ganz anderer Art und letztlich nur metaphysisch zu begründen.

Ein Imperativ, der auf den neuen Typ menschlichen Handelns passt und an den neuen Typ von Handlungssubjekt gerichtet ist, würde etwa so lauten: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“; oder negativ ausgedrückt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens“ […].

Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass kein rationaler Widerspruch in der Verletzung dieser Art von Imperativ involviert ist. Ich kann das gegenwärtige Gut unter Aufopferung des zukünftigen Guts wollen. Ich kann , so wie mein eigenes Ende, auch das Ende der Menschheit wollen. Ich kann, ohne in Widerspruch mit mir selbst zu geraten, wie für mich so auch für die Menschheit ein kurzes Feuerwerk äußerster Selbsterfüllung der Langeweile endloser Fortsetzung im Mittelmaß vorziehen.

Aber der neue Imperativ sagt eben, dass wir zwar unser eigenes Leben, aber nicht das der Menschheit wagen dürfen ; und dass Achill zwar das Recht hatte, für sich selbst ein kurzes Leben ruhmreicher Taten vor einem langen Leben ruhmloser Sicherheit zu wählen (unter der stillschweigenden Voraussetzung nämlich, dass eine Nachwelt da sein wird, die von seinen Taten zu erzählen weiß); dass wir aber nicht das Recht haben, das Nichtsein künftiger Generationen wegen des Seins der jetzigen zu wählen oder auch nur zu wagen. Warum wir dieses Recht nicht haben, warum wir im Gegenteil eine Verpflichtung gegenüber dem haben, was noch gar nicht ist und „an sich“ auch nicht zu sein braucht, jedenfalls als nicht existent keinen Anspruch auf Existenz hat, ist theoretisch gar nicht leicht und vielleicht ohne Religion überhaupt nicht zu begründen. Unser Imperativ nimmt es zunächst ohne Begründung als Axiom.

Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1984. S. 34-36;


Merkmale des neuen Imperativs:

Es ist […] offensichtlich, dass der neue Imperativ sich viel mehr an öffentliche Politik als an privates Verhalten richtet, welches letztere nicht die kausale Dimension ist, auf die er anwendbar ist. Kants kategorischer Imperativ war an das Individuum gerichtet und sein Kriterium war augenblicklich. Er forderte jeden von uns auf, zu erwägen, was geschehen würde, wenn die Maxime meiner jetzigen Handlung zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht würde oder es in diesem Augenblick schon wäre: die Selbsteinstimmigkeit oder Nichteinstimmigkeit einer solchen hypothetischen Verallgemeinerung wird zur Probe meiner privaten Wahl gemacht. Aber es war kein Teil dieser Vernunftüberlegung, es bestehe irgendeine Wahrscheinlichkeit dafür, dass meine private Wahl tatsächlich allgemeines Gesetz werde oder zu einem solchen Allgemeinwerden auch nur beitrage. In der Tat, reale Folgen sind überhaupt nicht ins Auge gefasst und das Prinzip ist nicht dasjenige objektiver Verantwortung, sondern das der subjektiven Beschaffenheit meiner Selbstbestimmung. Der neue Imperativ ruft eine andere Einstimmigkeit an: nicht die des Aktes mit sich selbst, sondern die seiner schließlichen Wirkungen mit dem Fortbestand menschlicher Aktivität in der Zukunft. Und die „Universalisierung“, die er ins Auge fasst, ist keineswegs hypothetisch – das heißt die bloß logische Übertragung vom individuellen „Ich“ auf ein imaginäres, kausal damit unverbundenes „Alle“ („wenn jeder so täte“): im Gegenteil, die dem neuen Imperativ unterworfenen Handlungen, nämlich Handlungen des kollektiven Ganzen, haben den universalen Bezug in dem tatsächlichen Ausmaß ihrer Wirksamkeit […].

Dies nun fügt dem moralischen Kalkül den Zeithorizont hinzu, der in der logischen Augenblicksoperation des kantischen Imperativs gänzlich fehlt: extrapoliert der letztere in eine immer-gegenwärtige Ordnung abstrakter Kompatibilität, so extrapoliert unser Imperativ in eine berechenbare wirkliche Zukunft als die unabgeschlossene Dimension unserer Verantwortlichkeit.

ebd., S. 37f.

Lernzettel

  • Ökologischer Imperativ: ,,Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“
    → Erweiterung des kategorischen Imperativs nach Kant
  • Es geht um die Erhaltung des Menschen als humanes, moralisches, mitfühlendes, respektvolles Wesen, nicht nur um sein physisches Überleben
  • Ist ausgeweitet auf Menschen der ganzen Welt & zukünftige Generationen
    → schaut auf alle möglichen Folgen global
  • Die jetzigen Generationen seien verantwortlich für die zukünftigen Generationen
    → Daraus resultiere die Pflicht des Menschen zur Nachhaltigkeit
  • Heuristik der Furcht: nur ungefährliche Technik dürfe erforscht & verwendet werden
    → Es solle immer der schlimmstmögliche Fall angenommen & dementsprechend gehandelt werden
  • Fordert den Schutz der Natur und ihrer Würde/ihrem Wert

Schaubild

Klausurtext

Tragfähigkeit

  • Schutz der jetzigen und zukünftigen Generationen → sichert das Weiterleben der Menschheit und fördert ein glückliches, erfülltes Leben in der Gesellschaft
  • Schutz des Menschen als moralisches Wesen → Jonas‘ Ethik bewahrt den Menschen vor Verrohung und ermöglicht ein friedliches Zusammenleben
  • Schutz der Natur und ihrer Würde → Mensch kann ein humanes und moralisches Wesen bleiben und die Umwelt wird für zukünftige Generationen erhalten
  • Einschränkung technischen und wissenschaftlichen Fortschritts → Heuristik der Furcht könnte den Menschen verängstigen und Innovationen verhindern
  • fehlende Definition des „echten menschlichen Lebens“ → es bleibt unklar, wie ein solches Leben zu erhalten ist und wer dies entscheidet, dadurch dass die Definition konsequentialistisch ausgelegt ist
  • Unklarheit in der Umsetzung des ökologischen Imperativs → Fehlen einer konkreten Handlungsanweisung für die Anwendung des Imperativs
  • Folgen sind unabsehbar

Teste dein Wissen

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

Er zielt auf die Erhaltung des Menschen als humanes, moralisches, mitfühlendes, respektvolles Wesen ab.

Jonas kritisierte an Kants kategorischem Imperativ, dass er zu wenig Wert auf die Sicherung zukünftigen menschlichen Lebens legt. Die  Nichtexistenz des Menschen in der Zukunft lasse sich widerspruchsfrei denken und könne somit ein allgemeines Gesetz werden. Da Kant die Menschheit aber natürlich auch schützen und erhalten wollte, formulierte Jonas den ökologischen Imperativ als „Optimierung“.

Mit seiner Erweiterung des kategorischen Imperativs vertritt er anders als Kant eine teleologische Ethik, da er die Moralität von Handlungen an ihren möglichen Folgen ableitet.

Er fordert den Schutz aller Menschen weltweit sowie zukünftiger Generationen. Sein primäres Ziel ist die Sicherung einer lebenswerten, nachhaltigen Zukunft.

Jetzige Generationen sind verantwortlich für zukünftige Generationen, womit sie die Pflicht zur Nachhaltigkeit haben.

Der Mensch soll beziehungsweise darf nur ungefährliche Techniken erforschen und verwenden, um zukünftiges Leben zu schützen und NICHT zu gefährden (s. Atomkraft →  Atombombe).

Für die Heuristik der Furcht formuliert Jonas folgende Faustregel: „Gehe im Zweifelsfall vom Schlimmsten aus.“

Es soll der schlimmstmögliche Fall angenommen und die Handlung dementsprechend angepasst werden. So sollten Forscher intensiv überlegen, welche Konsequenzen das Forschen an neuen Gentechniken wie bspw. künstlich erschaffenen Föten oder Organen zukünftig mit sich bringen könnte.

Hans Jonas fordert den Schutz der Natur und ihrer Würde bzw. ihrem Wert, um eine nachhaltige Welt für zukünftige Generationen zu sichern.

Nein! Obwohl Hans Jonas den Schutz der Menschheit und die Sicherung einer guten Zukunft für folgende Generationen fordert, baut seine Ethik auf den kategorischen Imperativ auf. Nach diesem ist es strikt abzulehnen, andere Menschen zu töten, da es gegen die Formeln des Kategorischen Imperativs und somit die Pflicht verstößt und unmoralisch wäre.

Eine Handlung ist genau dann moralisch richtig, wenn sie aus Pflicht geschieht und darüber hinaus dem ökologischen Imperativ entspricht, indem Menschen verantwortungsbewusst, nachhaltig und mit Vorsicht handeln.

Lernmaterial

Einen guten Überblick zum Prinzip Verantwortung bildet das folgende Video:
Hans Jonas | Das Prinzip Verantwortung

 

Alltagsbeispiele zur Anwendung der Position:
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https://philo.works/alltagsbezogene-fragen-zum-ueben/