Hermeneutik

Hans-Georg Gadamer

Gadamers Konzept der Horizontverschmelzung beschreibt den komplexen inneren Prozess, bei dem unterschiedliche Perspektiven und Verständniswelten aufeinander treffen und sich gegenseitig bereichern. Diese dynamische Interaktion ermöglicht es, tiefere Einsichten und ein erweitertes Verständnis zu gewinnen.

Inhalt

Biografie

Hans-Georg Gadamer (* 11. Februar 1900 in Marburg; † 13. März 2002 in Heidelberg) war ein deutscher Philosoph. International bekannt wurde er durch sein für die philosophische Hermeneutik grundlegendes Werk Wahrheit und Methode (1960).

Zitate

Original Textauszug

Verstehen als hermeneutische Grundhaltung:
Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text schon mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht. […]

Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich „an den Sachen“ erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens. […]

Jedem Text gegenüber ist die Aufgabe gestellt, den eigenen Sprachgebrauch […] nicht einfach ungeprüft einzusetzen. Wir erkennen vielmehr die Aufgabe an, aus dem Sprachgebrauch der Zeit bzw. des Autors unser Verständnis des Textes erst zu gewinnen. […]

Man wird sagen müssen, dass es im Allgemeinen erst die Erfahrung des Anstoßes ist, den wir an einem Text nehmen – sei es, dass er keinen Sinn ergibt, sei es, dass sein Sinn mit unserer Erwartung unvereinbar ist –, die uns einhalten und auf das mögliche Anderssein des Sprachgebrauchs achten lässt. […]

Gewiss kann es keine generelle Voraussetzung sein, dass das, was uns in einem Text gesagt wird, sich meinen eigenen Meinungen und Erwartungen bruchlos einfügt. Was mir einer sagt, ob im Gespräch, Brief oder Buch oder wie immer, steht ja zunächst im Gegenteil unter der Voraussetzung, dass es seine und nicht meine Meinung ist, die da ausgesprochen wird und die ich zur Kenntnis zu nehmen habe, ohne dass ich dieselbe zu teilen brauche. Aber diese Voraussetzung ist nicht eine erleichternde Bedingung für das Verstehen, sondern insofern eine Erschwerung, als die mein Verständnis bestimmenden eigenen Vormeinungen ganz unbemerkt zu bleiben vermögen. […]

Sieht man näher zu, so erkennt man jedoch, dass auch Meinungen nicht beliebig verstanden werden können. So wenig wir einen Sprachgebrauch dauernd verkennen können, ohne dass der Sinn des Ganzen gestört wird, so wenig können wir an unserer eigenen Vormeinung über die Sache blindlings festhalten, wenn wir die Meinung eines anderen verstehen. Es ist ja nicht so, dass man, wenn man jemanden anhört, oder an eine Lektüre geht, alle Vormeinungen über den Inhalt und alle eigenen Meinungen vergessen müsste. Lediglich Offenheit für die Meinung des anderen oder des Textes wird gefordert. Solche Offenheit aber schließt immer schon ein, dass man die andere Meinung zu dem Ganzen der eigenen Meinung in ein Verhältnis setzt oder sich zu ihr. Nun sind zwar Meinungen eine bewegliche Vielfalt von Möglichkeiten […], aber innerhalb dieser Vielfalt des Meinbaren, d. h. dessen, was ein Leser sinnvoll finden und insofern erwarten kann, ist doch nicht alles möglich, und wer an dem vorbeihört, was der andere wirklich sagt, wird das Missverstandene am Ende auch der eigenen vielfältigen Sinnerwartungen nicht einordnen können. […]

Wer verstehen will, wird sich von vornherein nicht der Zufälligkeit der eigenen Vormeinung überlassen dürfen, um an der Meinung des Textes so konsequent und hartnäckig wie möglich vorbeizuhören – bis etwa diese unüberhörbar wird und das vermeintliche Verständnis umstößt. Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen- Daher muss ein hermeneutisch geschultes Bewusstsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche „Neutralität“ noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit inne zu sein, damit sich der Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen.

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Mohr, Tübingen 1960. S. 271-274

 

Verstehen als Horizontverschmelzung:
[…] Zum Begriff der Situation gehört daher wesenhaft der Begriff des Horizontes . Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfasst und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist. […] Umgekehrt heißt „Horizont haben“, nicht auf das Nächste eingeschränkt sein, sondern über es hinaussehen können. Wer Horizont hat, weiß die Bedeutung aller Dinge innerhalb dieses Horizontes richtig einzuschätzen nach Nähe und Ferne, Größe und Kleinheit. […]
Freilich reden wir im Bereich des historischen Verstehens auch gern von Horizont […].
Die Aufgabe des historischen Verstehens schließt die Forderung ein, jeweils den historischen Horizont zu gewinnen, damit sich das, was man verstehen will, in seinen wahren Maßen darstellt. Wer es unterlässt, derart sich in den historischen Horizont zu versetzen, aus dem die Überlieferung spricht, wird die Bedeutung der Überlieferungsinhalte missverstehen. Insofern scheint es eine berechtigte hermeneutische Forderung, dass man sich in den andern versetzen muss, um ihn zu verstehen.
Es ist genauso wie im Gespräch, das wir mit jemandem nur zu dem Zwecke führen, um ihn kennenzulernen, d. h. um seinen Standort und seinen Horizont zu ermessen. Das ist kein wahres Gespräch, d. h. es wird darin nicht die Verständigung über eine Sache gesucht, sondern alle sachlichen Inhalte des Gespräches sind nur ein Mittel, um den Horizont des anderen kennenzulernen. Man denke etwa an das Prüfungsgespräch oder bestimmte Formen der ärztlichen Gesprächsführung. Das historische Bewusstsein tut offenbar Ähnliches, wenn es sich in die Situation der Vergangenheit versetzt und dadurch den richtigen historischen Horizont zu haben beansprucht.
So wie im Gespräch der andere, nachdem man seinen Standort und Horizont ermittelt hat, in seinen Meinungen verständlich wird, ohne dass man sich deshalb mit ihm zu verstehen braucht, so wird für den, der historisch denkt, die Überlieferung in ihrem Sinn verständlich, ohne dass man sich doch mit ihr und in ihr versteht.
[Ferner muss] man […] immer schon Horizont haben, um sich dergestalt in eine Situation versetzen zu können. Denn was heißt Sichversetzen? Gewiss nicht einfach: Von-sich-absehen.
Natürlich bedarf es dessen insoweit, als man die andere Situation sich wirklich vor Augen stellen muss. Aber in diese andere Situation muss man sich selber gerade mitbringen. Das erst erfüllt den Sinn des Sichversetzens. Versetzt man sich z. B. in die Lage eines anderen Menschen, dann wird man ihn verstehen, d. h. sich der Andersheit, ja der unauflöslichen Individualität des Anderen gerade dadurch bewusst werden, dass man sich in seine Lage versetzt. […]
Ein wahrhaft historisches Bewusstsein sieht die eigene Gegenwart immer mit, und zwar so, dass es sich selbst wie das geschichtliche Andere in den richtigen Verhältnissen sieht. […]
In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen, sofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Erprobung gehört nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.

ebd., S. 307-312

Lernzettel

  • Problemfrage: Wie gelangt man zu Verständnis?
  • Hermeneutik ist keine Methodenlehre, sondern klärt die Regeln und Bedingungen des Verstehens
  • Verstehen ist ein Prozess der Verschmelzung von Horizonten → Ziel: Horizontverschmelzung
  • Vorurteile = Vorbehalte, meist negativ konnotiert, die geprüft werden müssen → Diese sind abzulehnen, aber man müsse sich ihnen bewusst sein
  • Vor-Urteile (auch: Vormeinungen) sind notwendige Voraussetzung des Verstehens
    → aber: Offenheit für den Text und Zurückhaltung der eigenen Meinung sind ebenso notwendig 
  • Mensch wirft dem Text immer einen Sinn voraus (Erwartungen, Vor-Urteile) → er hat schon vor dem ersten Lesen eine Erwartung an den Text, die durch das Lesen geprüft werden müssen
  • Horizont = Gesamtheit aller relevanten Erfahrungen, allen Wissens und aller Vor-Urteile einer Person
  • Verstehen des historischen Horizontes durch Horizontverschmelzung
  • Horizontverschmelzung = Bildung eines großen, beweglichen Horizontes durch die Verbindung des eigenen Horizonts mit dem fremden Horizont (Text)
  • dazu: Annäherung an die Perspektive des fremden Horizontes Bewusstwerden der Andersheit
  • auf dem Weg des Verstehens müssen Barrieren wie z.E. Sprache, Wortschatz, Epoche überwunden werden →Warum? – um den Text verstehen bzw. sich dem historischen Horizont annähern zu können
  • ein historisches Bewusstsein muss bereits vorhanden sein, um Vergangenes verstehen zu können
  • Horizontverschmelzung als Ideal(!) → die Verschmelzung beider Horizonte ist nicht möglich, da die Bedeutung und der Sinn eines historischen Textes niemals vollständig erfasst werden können → daher müssen wir uns mit einer bestmöglichen Annäherung begnügen
  • Folge der Annäherung: kontinuierliche Weiterentwicklung & Vergrößerung des eigenen Horizonts

 

Veranschaulichung des Verstehensprozesses:

  • Hermeneutischer Zirkel
    → zirkelförmiger Prozess des Verstehens (V → T → V1 → T1 → V2 → T2 → …)
    wechselseitige Beeinflussung von Vor-Urteilen und Überlieferung
  • Stufen:
    1) zwischen dem Verstehenden (Mensch) & dem zu Verstehenden (Text)
    2) zwischen Teil & Ganzem des Textes
    3) zwischen dem eigenen, gegenwärtigen Horizont & dem historischen Horizont des Textes

Schaubild

Klausurtext

Tragfähigkeit

  • Theorie ist in alltäglichen Situationen nachvollziehbar und anwendbar
    → Barrieren sind in Situation des Verstehens immer vorhanden
    → das Verstehen wird schwieriger je nachdem aus welchem Kontext bzw. welcher Zeit der Text stammt
  • die Erweiterung des eigenen Horizontes durch die Verschmelzung ist sinnvoll
  • bildet eine nützliche Anleitung, vor allem, wenn es um das Zusammenleben in der Gesellschaft geht → hilft dem Menschen, seine Vorurteile beiseite zustellen und mehr Verständnis aufzubringen
  • Weg des Verstehens beschränkt sich nicht nur auf Texte, sondern ist auf nahezu jeden Sachverhalt anwendbar
  • der eigene Horizont werde durch äußere subjektiv wahrnehmbare Faktoren beeinflusst (Staat, Bezugsperson, Gesellschaft) → nachvollziehbar, denn wir machen den Horizont anderer Person abhängig von der sozialen Situation eines Menschen → Vorurteile
  • Die meisten scheinbar negativen Punkte weisen eher auf ein Problem des Menschen im Verstehens Prozess hin und sind keine Schwächen seiner Position
  • man erweitere seinen Horizont mit jeder Verschmelzung, d.h. der hermeneutische Zirkel geht nur von einer Erweiterung des Vorverständnisses aus
    → Teile des eigenen Horizontes können aber durch Unfälle, Alkohol, Drogen, etc. verloren gehen → geht nicht darauf ein
  • Wie entwickelt sich das erste Vorverständnis, wenn man noch keinen Horizont besitzt? → Babys haben noch kein Vorverständnis und können nicht verstehen → „tabula rasa“

Teste dein Wissen

Gadamer stellt Regeln und Bedingungen des Verstehens auf und betont, dass das Verstehen nicht durch eine spezifische Methode, sondern durch das Zusammenspiel von Vor-Urteilen und der Offenheit für den Text erfolgt.

Laut Gadamer handelt es sich genau dann um Vor-Urteile, wenn es eigene Vor-Meinungen sind, die man von einem Medium oder Text hat und die eine notwendige Voraussetzung für das Verstehen darstellen.

Diese Vor-Meinungen seien Vorwegnahmen oder Vermutungen, die nach dem Verstehen geprüft werden müssten.

Mögliche Barrieren, die im Verstehensprozess überwunden und angenommen werden müssen seien z.B. die Sprache der Zeit und des Autors, die Epoche oder Werte und Normen der Zeit.

Gadamer betont die Notwendigkeit, Offenheit für den Text zu haben, die eigenen Vormeinungen zurückzustellen, ohne sie jedoch zu vergessen oder die Meinung des Autors annehmen zu müssen.

Wenn man sich nur auf die eigene Perspektive beschränkt, wird ein wirkliches, richtiges Verstehen eines Textes unmöglich.

Etwas sei genau dann ein Horizont, wenn es das alles umfassende Blickfeld von einem Punkt ausgehend ist, d.i. die Gesamtheit aller Vor-Meinungen, Vorverständnisse und Erfahrungen, die es ermöglichen, alle Dinge innerhalb dieses Horizontes zu verstehen.

Horizontverschmelzung ist der Prozess, bei dem der eigene Horizont mit einem fremden, historischen Horizont verbunden wird, indem man sich dem fremden Horizont annähert und versucht, seine Perspektive einzunehmen.

Der eigene subjektive Horizont ist essenziell für das Verstehen des historischen Horizonts, da er hilft, die Andersheit des historischen Horizonts in den richtigen Verhältnissen zu erkennen und ein wirkliches historisches Bewusstsein zu erreichen.

Der hermeneutische Zirkel veranschaulicht, dass der Verstehensprozess ein Kreislauf ist, der mit einem Vorverständnis, bestehend aus dem eigenen Horizont und den Vor-Urteilen, beginnt, das durch das erste Textverständnis geprüft und ständig angepasst wird, um ein tieferes Verständnis des Textes zu erreichen.

Das Endziel des Verstehensprozesses ist die Erweiterung des eigenen subjektiven Horizontes durch eine Verschmelzung des eigenen Horizontes mit dem fremden.

Dies werde erreicht, indem man die eigenen Vor-Urteile und Erfahrungen mit dem Horizont des Textes verbindet und so den eigenen Horizont ständig weiterbilde und verändere.

Lernmaterial