Klassischer Utilitarismus

Jeremy Bentham

Der klassische Utilitarismus, geprägt von Jeremy Bentham, basiert auf dem Prinzip des größten Glücks für die größtmögliche Anzahl von Menschen. Das berühmte Trolley-Problem stellt diese ethische Theorie auf die Probe, indem es fragt: Ist es moralisch vertretbar, einen Menschen zu opfern, um viele zu retten? Diese spannenden Fragen laden dazu ein, tiefer in die Welt der Ethik und Moral einzutauchen.

Inhalt

Biografie

Jeremy Bentham (* 15. Februar 1748 in Spitalfields, London; † 6. Juni 1832 ebenda) war ein englischer Jurist, Philosoph und Sozialreformer. Bentham gilt als Begründer des klassischen Utilitarismus. Er war einer der wichtigsten Sozialreformer Englands im 19. Jahrhundert und ein Vordenker des modernen Wohlfahrtsstaats. Er forderte allgemeine Wahlen, das Frauenstimmrecht, die Abschaffung der Todesstrafe, Tierrechte, die Legalisierung jeglicher sexuellen Präferenz.

Zitate

Original Textauszug

Über das Prinzip der Nützlichkeit:
Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Leid und Freude – gestellt. Es ist an ihnen allein aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden. Sowohl der Maßstab für Richtig und Falsch als auch die Kette der Ursachen und Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht. Sie beherrschen uns in allem, was wir tun, was wir sagen, was wir denken: jegliche Anstrengung, die wir auf uns nehmen können, um unser Joch von uns zu schütteln, wird lediglich dazu dienen, es zu beweisen und zu bestätigen. Jemand mag zwar mit Worten vorgeben, ihre Herrschaft zu leugnen, aber in Wirklichkeit wird er ihnen ständig unterworfen bleiben. Das Prinzip der Nützlichkeit erkennt dieses Joch an und übernimmt es für die Grundlegung jenes Systems, dessen Ziel es ist, das Gebäude der Glückseligkeit durch Vernunft und Recht zu errichten. […]

Die Gemeinschaft ist ein fiktiver Körper, der sich aus den Einzelpersonen zusammensetzt, von denen man annimmt, dass sie sozusagen seine Glieder bilden. Was also ist das Interesse der Gemeinschaft? – Die Summe der Interessen der verschiedenen Glieder, aus denen sie sich zusammensetzt. Es hat keinen Sinn, vom Interesse der Gemeinschaft zu sprechen, ohne zu wissen, was das Interesse des Individuums ist.

Man sagt von einer Sache, sie sei dem Interesse förderlich oder zugunsten des Interesses eines Individuums, wenn sie dazu neigt, zur Gesamtsumme seiner Freuden beizutragen: oder, was auf das Gleiche hinausläuft, die Gesamtsumme seiner Leiden zu vermindern.
Man kann also von einer Handlung sagen, sie entspreche dem Prinzip der Nützlichkeit oder – der Kürze halber – der Nützlichkeit (das heißt in Bezug auf die Gemeinschaft insgesamt), wenn die ihr innewohnende Tendenz, das Glück der Gemeinschaft zu vermehren, größer ist als irgendeine andere ihr innewohnende Tendenz, es zu vermindern.

Jeremy Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation / Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung, in: Otfried Höffe (Hg.): Einführung in die utilitaristische Ethik. Klassische und zeitgenössische Texte. A. Francke Verlag, Tübingen 1992. S. 55-56, 56-57

 

Lässt sich Nutzen berechnen?
Für eine Anzahl von Personen wird der Wert einer Freude oder eines Leids, sofern man sie im Hinblick auf jede von ihnen betrachtet, gemäß sieben Umständen größer oder kleiner sein: das sind die sechs vorigen, nämlich

a) die Intensität,
b) die Dauer,
c) die Gewissheit oder Ungewissheit,
d) die Nähe oder Ferne,
e) die Folgenträchtigkeit,
f) die Reinheit einer Freude oder eines Leids.

Hinzu kommt ein weiterer Umstand, nämlich
g) das Ausmaß, das heißt die Anzahl der Personen, auf die Freude oder Leid sich erstrecken oder (mit anderen Worten) die davon betroffen sind.

Wenn man also die allgemeine Tendenz einer Handlung, durch die die Interessen einer Gemeinschaft betroffen sind, genau bestimmen will, verfahre man folgendermaßen. Man beginne mit einer der Personen, deren Interessen am unmittelbarsten durch eine derartige Handlung betroffen zu sein scheinen, und bestimme:

a) den Wert jeder erkennbaren Freude , die von der Handlung in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint;
b) den Wert jeden Leids , das von ihr in erster Linie hervorgebracht zu sein scheint;
c) den Wert jeder Freude, die von ihr in zweiter Linie hervorgebracht zu sein scheint. Dies begründet die Folgenträchtigkeit der ersten Freude und die Unreinheit des ersten Leids ;
d) den Wert jeden Leids, das von ihr in zweiter Linie anscheinend hervorgebracht wird. Dies begründet die Folgenträchtigkeit des ersten Leids und die Unreinheit der ersten Freude .
e) Man addiere die Werte aller Freuden auf der einen und die aller Leiden auf der anderen Seite. Wenn die Seite der Freude überwiegt, ist die Tendenz der Handlung im Hinblick auf die Interessen dieser einzelnen Person insgesamt gut; überwiegt die Seite des Leids, ist ihre Tendenz insgesamt schlecht .
f) Man bestimme die Anzahl der Personen, deren Interessen anscheinend betroffen sind, und wiederhole das oben genannte Verfahren im Hinblick auf jede von ihnen. Man addiere die Zahlen, die den Grad der guten Tendenz ausdrücken, die die Handlung hat – und zwar in Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt gut ist; das Gleiche tue man in Bezug auf jedes Individuum, für das die Tendenz insgesamt schlecht ist. Man ziehe die Bilanz ; befindet sich das Übergewicht auf der Seite der Freude , so ergibt sich daraus für die betroffene Gesamtzahl oder Gemeinschaft von Individuen eine allgemein gute Tendenz der Handlung; befindet es sich auf der Seite des Leids, ergibt sich daraus für die gleiche Gemeinschaft eine allgemein schlechte Tendenz .

Es kann nicht erwartet werden, dass dieses Verfahren vor jedem moralischen Urteil und vor jeder gesetzgebenden oder richterlichen Tätigkeit streng durchgeführt werden sollte. Es mag jedoch immer im Blick sein, und je mehr sich das bei solchen Anlässen tatsächlich durchgeführte Verfahren diesem annähert, desto mehr wird sich ein solches Verfahren dem Rang eines exakten Verfahrens annähern.

ebd., S.79-81

 

Lernzettel

  • teleologische bzw. folgeorientierte Ethik → Bewertung der Handlung nach ihren Folgen
  • unabwendbare Abhängigkeit von Leid und Freude → jede Handlung verursacht sie; bestimmen unser Handeln und unsere Moral
  • Prinzip der Nützlichkeit (Utilitätsprinzip): moralisch richtig ist, was Glück für die Mehrheit hervorbringt → Leidminimierung
  • Interesse der Gemeinschaft = Summe der Interessen aller betroffenen Individuen
    → Berücksichtigung aller Betroffenen (Universalitätsprinzip)
  • Summe der Freude der Individuen als Maßstab (hedonistisches Prinzip)
  • Gemeinschaft als Körper; Individuum als Glied
  • hedonistisches Kalkül:
    – Maximierung des Glücks der Gemeinschaft; Minimierung des Leids
    – Berechnung der Freude/des Leids einer Handlung anhand von 7 Faktoren:
    → Intensität, Dauer, Gewissheit oder Ungewissheit, Nähe oder Ferne, Folgeträchtigkeit, Reinheit der Freude bzw. des Leids, Ausmaß
  • Bestimmung der Handlungstendenz:
  • Summation aller Freuden und allen Leidens aller Betroffenen der Handlung
  • Wahl der Handlung mit bestmöglicher Freude-Leid-Bilanz

Schaubild

Klausurtext

Tragfähigkeit

  • das Interesse jedes Betroffenen wird berücksichtig, verfolgt also das Universalitätsprinzip → dabei ist jeder Mensch gleich viel wert
  • Berücksichtigung des größten Glücks der Betroffenen ist grundsätzlich positiv
  • Man kann sich von den Gebietern Leid und Freude nicht lösen → empirisch überprüfbare Aussage
  • Das hedonistische Kalkül ist als Schematismus in jeder ethischen Entscheidungssituation anwendbar
  • Festlegung von Freude bzw. Leid ist subjektiv → kann nicht allgemein gelten (Neigung)
  • Es kann aufgrund der Subjektivität niemals eine absolut geltende moralische Norm abgeleitet werden
  • Das Prinzip erfordert das Hineinversetzen in andere Personen, welches laut der Doppelaspekt-Theorie von Nagel nicht möglich ist
  • Umfang der Betroffenen lässt sich nur schwer bestimmen
  • teleologische Ethik → Folgen erst nach der Handlung absehbar
  • hedonistisches Kalkül ist kompliziert → beansprucht Zeit
  • kontraintuitive Ergebnisse → sprechen oft gegen das, was man intuitiv tun würde
  • macht den Menschen zum Objekt bzw. “Mittel zum Zweck“ → beraubt ihn u.U. seiner Menschenwürde → Widerspruch mit der Verfassung
  • Minderheiten können immer wieder benachteiligt werden
  • destruktive Freuden müssen beachtet werden
  • hedonistisches Kalkül ist überflüssig bei signifikanten Mehrheiten

Teste dein Wissen

eine teleologische, d.h. folgeorientierte, Ethik

Eine Handlung ist genau dann moralisch, wenn sie das Glück der Gemeinschaft maximiert bzw. das Leid minimiert. Eine solche Handlung entspricht dem Prinzip der Nützlichkeit.

Der Mensch ist von Freude und Leid abhängig, da jede Handlung sowohl Freude als auch Leid hervorbringt, er sich also nicht von ihnen lösen kann.

a) dem hedonistischen Prinzip → strebt nach Glück/Freude

b) dem Utilitätsprinzip → Nützlich ist,  was Freude für die Mehrheit hervorbringt

c) dem Universalitätsprinzip → das Interesse jedes von der Handlung betroffenen Individuums wird beachtet

d) Konsequenzprinzip → Abwägung der bestmöglichen Folgen einer Handlung

Zunächst wird eine individuelle Skala zur Bewertung der Faktoren gewählt.

Anschließend werden die Werte von Freude bzw. Leid jedes Betroffenen einzeln bestimmt.

Dann werden die Werte von Freude und Leid aller Betroffenen addiert und eine Bilanz gezogen.

→  Es wird die Handlung vollzogen, welche die größte Freude-Leid Bilanz aufweist.

Bentham vergleicht die Gemeinschaft mit einem Körper und das Individuum mit einem Glied dieses Körpers.

Da alle Individuen Teil der Gemeinschaft sind – so wie alle Glieder des Körpers zum Körper gehören – muss das Interesse jedes Individuums beachtet werden.

  1. Intensität → Stärke der Freude/des Leids
  2. Dauer → wie lange Freude & Leid anhalten
  3. Gewissheit oder Ungewissheit → Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Freude/Leid
  4. Nähe oder Ferne → Wie stark sind die Personen von Freude/Leid betroffen?
  5. Folgeträchtigkeit → Einberechnung möglicher Nebenfolgen
  6. Reinheit der Freude/des Leids → Echtheit der Freude/des Leids
  7. Ausmaß → Anzahl aller direkt und indirekt Betroffenen

Es wird eine Bilanz zwischen den Summen von Freude und Leid gezogen. Diejenige Handlung, welche die größte Freude-Leid Bilanz aufweist wird verfolgt.

Der Utilitarismus ist eine teleologische Ethik und bewertet die Moralität einer Handlung anhand der Menge von Freude und Leid, die sie hervorbringt.

Die Kantische Pflichtethik hingegen ist eine deontologische Ethik und schaut  auf die Pflicht, welche darin besteht, dem durch die Vernunft selbst auferlegten Moralgesetz zu folgen. Anders als der Utilitarismus bewertet Kant also die Motivation, die hinter einer Handlung steht.

Lernmaterial

Einen guten Überblick zum klassischen Utilitarismus bildet das folgende Video:
https://www.youtube.com/watch?v=Xk2-6vinjHs

 

Die beste Vorbereitung besteht darin, zu verschiedenen ethischen Dilemma-Situationen ein hedonistisches Kalkül aufzustellen. Dabei ist es wichtig, dass man versucht, beide Entscheidungsmöglichkeiten zu betrachten, weil das in der Klausur bepunktet wird.

Fallbeispiel zum Lernen 1:
Die Organspende wird von 88 % der Bevölkerung akzeptiert und 61 % sind selbst dazu bereit, nach dem Tod mit den eigenen Organen Leben zu retten. Dennoch gibt es immer noch viel zu wenig Organspenden in Deutschland, um allen, die auf Spenderorgane angewiesen sind, zu helfen. Das liegt nach Experteneinschätzung an der hier geltenden Zustimmungsregelung, nach der Organe nur entnommen werden können, wenn der Betreffende ausdrücklich zugestimmt hat. Lediglich ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung weiß von dieser Regelung und hat einen Organspendeausweis ausgefüllt. In anderen Ländern, beispielsweise Luxemburg, Italien und Österreich, gilt dagegen die Widerspruchsregelung. Sie legt fest, dass grundsätzlich jeder Verstorbene als Organspender in Frage kommt, sofern er sich nicht zu Lebzeiten ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat. Wäre es nicht besser, auch in Deutschland die Widerspruchsregelung anzuwenden, damit mehr Menschen, die auf Organspenden angewiesen sind, weiterleben können?

Fallbeispiel zum Lernen 2:
In und um Duisburg kommt es im täglichen Berufsverkehr zu kilometerlangen Staus, wodurch tausende von Menschen auf ihren Fahrten mit dem Auto behindert werden. Um den Verkehr zu entzerren, soll die Stadtautobahn auf sechs Spuren ausgebaut wer- den. Dazu muss allerdings ein Haus abgerissen werden. Der Eigentümer, die Familie Heintze, die mit drei Generationen in dem Haus lebt, lehnt es ab, ihr Haus an die Stadt Duisburg zu verkaufen. Deshalb erwägt die Stadt, Familie Heintze gegen Zahlung einer entsprechenden Entschädigung zu enteignen. Halten Sie einen solchen Entschluss für gerechtfertigt, um die Autobahn bauen und den Verkehr entlasten zu können?

 

Alltagsbeispiele zur Anwendung der Position:
Du willst dein Wissen zur Ethik mit alltagsbezogenen Dilemmasituationen prüfen? Hier geht’s zu unserer Seite mit spannenden ethischen Fragen.
https://philo.works/alltagsbezogene-fragen-zum-ueben/